Situationsanalyse Hessen
Inobhutnahme von UMF
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in Hessen im Rahmen eines hessen-spezifischen Clearingverfahrens aufgenommen und betreut (nach § 42 SGB VIII). Hessenweit erfolgt die Inobhutnahme in der Regel in so genannten Clearinghäusern. Als größte Aufnahmeeinrichtung ist zu nennen das Valentin-Senger-Haus (Aufnahmeheim der AWO für UMF) in Frankfurt. Daneben bestehen in Frankfurt weitere kleinere Aufnahmeeinrichtungen. In Gießen existieren mehrere Clearinggruppen des Jugendhilfeträgers St. Stephanus. Darüber hinaus gibt es Inobhutnahmeplätze in Kassel und Wiesbaden.
Am Beispiel der Vergleichszahlen der Inobhutnahmen von UMF in Frankfurt/Main lässt sich ersehen, dass der Zugang stetig ansteigt (Quelle: Jugendamt Frankfurt):
Gesamtzahl 2008: 141
Gesamtzahl 2009: 187
Gesamtzahl 2010: 307
Gesamtzahl 2011: 347
Gesamtzahl 2012: 351
Gesamtzahl 2013: 539
Bei diesen Angaben sind nur die tatsächlichen Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII berücksichtigt, nicht die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber und die Unterbringung bei Verwandten, die nicht die Personensorge tragen. So gab es etwa im Jahr 2012 539 Inobhutnahmen, aber insgesamt 687 Kontakte mit UMF (Jugendämter, Auslandsämter etc). De facto liegt die Zahl der einreisenden UMF sogar nochmal um einiges höher, denn nicht zu vergessen ist auch die nur schwer zu schätzende Dunkelziffer von UMF, die bei keiner Behörde registriert bzw. gezählt wurden.
Tendenziell lässt sich feststellen, dass die überwiegende Zahl der einreisenden UMF in Hessen aus Afghanistan und Ostafrika (insb. aus Somalia und Eritrea) kommt. Die Mehrheit (87%) ist männlich. Bezüglich der Altersstruktur sind die meisten UMF in einem Alter von 14-17 Jahren und nur 4% der UMF jünger als 14 (Quelle: Jugendamt F.a.M.; Stand: 2013).
Zu beobachten ist, dass Flüchtlinge aus Konfliktregionen in Nahost und Afrika circa mit einer Zeitverschiebung von 2-3 Jahren in Deutschland bzw. konkret in Hessen eintreffen. So lange dauert es der bisherigen Erfahrung nach, bis sich die Fluchtrouten etablieren und „funktionieren“. UMF treffen in der Regel hierzu nochmal versetzt ein, erfahrungsgemäß circa 1-2 Jahre nach flüchtenden Erwachsenen und Familien. Entsprechend erklärt sich, warum die Zahl von UMF aus sehr aktuellen Konfliktregionen, etwa aus Syrien, vorerst nur langsam zunimmt.
Nach der Inobhutnahme
Nach einem Ende der Inobhutnahme werden die Jugendlichen hessenweit auf die jeweiligen Landkreise nach einem festgelegten Quotensystem verteilt und in verschiedenen — meist spezialisierten — Jugendhilfeeinrichtungen weiter betreut. Nach der Zuweisung in einen Landkreis ist das dort zuständige Jugendamt für die anschließende Hilfegewährung verantwortlich. Im Bereich Nordhessen existieren derzeit 10 solcher Jugendhilfeeinrichtungen für UMF mit einer Gesamtzahl von ca. 200 Personen, und zwar mit steigender Tendenz (Stand: 2013).
In Hessen erhalten die Jugendlichen von Beginn an (also bereits in den beiden Clearingeinrichtungen in Frankfurt und Gießen) Zugang zu Sprachkursen; zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt dann der Übergang zu Regelschulen.
In Hessen gilt hierbei nur für laufende Asylfälle sowie für Personen mit dauerhaftem Aufenthalt eine Schulpflicht, für UMF im Asylverfahren oder mit Duldung dagegen nur ein Schulrecht. Die Bildungsbiographie von diesen UMF hängt vom guten Willen der zuständigen Schulbehörden ab.
(Aus)Bildungsarbeit mit UMF
Die Erfahrungen der letzten 10 Jahre Bildungsarbeit mit UMF zeigt, dass das Bildungsniveau der neu zugewanderten UMF sich im Vergleich zu Beginn der 2000er Jahre verschlechtert hat. Dies zeigt sich unter anderem an dem steigenden Prozentsatz von nicht (ausreichend) alphabetisierten UMFs und liegt meist an den Lernumgebungen, aus denen die UMF in ihren Heimatländern kommen. So sind es zunehmend mehr junge Menschen aus sozial schwachen Gesellschaftschichten, die sich gezwungen sehen eine Flucht zu riskieren bzw. sich eine Flucht zu leisten (Randvermerk: Hier boomt als zunehmender trauriger Trend der Organhandel). Erschwerend kommt hinzu, dass die UMF zunehmend traumatisiert sind und parallel zum Zugang zu Bildung auch eine fallspezifische psycho-soziale, sozialpädagogische und ggflls. auch therapeutische Betreuung benötigen. Dies belastet das Bestehen im deutschen Bildungssystem und macht eine Integration in normale Maßnahmen schwierig.
In Hinsicht auf die Integration durch Bildung der UMF bleibt außerdem festzuhalten, dass keine klaren Zuständigkeiten existieren. Es besteht kein Anspruch auf BAMF-Förderung im Rahmen der Sprach- und Integrationskurse. In Nordhessen wird im Regelfall der erste Sprachkurs über das Jugendamt bezahlt, danach sollte der Einstieg in eine Regelschule erfolgen, was aber nur begrenzt möglich ist auf Grund der o.a. Diskrepanz zwischen Schulpflicht und Schulrecht, also vom Aufenthaltstitel abhängt. Oft bleibt nur die Integration in EIBE oder andere Hilfsmöglichkeiten übrig. Eine Integration in ein stringentes, ganzheitliches und zu Nachhaltigkeit führendem Bildungs- und Ausbildungssystem findet derzeit nicht statt.
Um ein ganzheitliches und nachhaltig wirksames Bildungssystem für UMF entstehen zu lassen, das die spezifischen Bedürfnisse der Zielgruppe berücksichtigt, ist eine effektive Vernetzung zwischen den caritativen Einrichtungen, den Behörden, den Schulen und Sprachkursanbietern unentbehrlich. Gemeinsam können wirksame Konzepte ins Leben gerufen werden, die die UMF vom Beginn ihrer sprachlichen Vorbereitung bis zum Einstieg in die Schule und eine Ausbildung oder eine berufliche Tätigkeit begleiten.
Ziel des Projektes „UMF-PERSPEKTIVE. Sprach- und Lernförderung Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtlinge zur Integration in das deutsche (Aus-)Bildungssystem“ ist es deshalb, gemeinsam mit den Projektpartnern Voraussetzungen zu schaffen, um den Bildungsstand der Zielgruppe nachhaltig zu verbessern und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.